28
Ich rief Moskal ein paar Tage früher als vereinbart an.
»Ich dachte, ich würde erst am Montag von Ihnen hören«, sagte er mit seinem prägnanten Bostoner Akzent.
»Ich habe ihn festgenagelt«, sagte ich und strahlte förmlich durch den Hörer.
»Wow.«
Er sagte es leise, als wäre er eher enttäuscht. Ich verstand das vollkommen; er wollte ihn ja so unbedingt wie ich.
»Ja. Ich habe einen Haftbefehl für den Mistkerl.«
»Schön für Sie. Und schnell.«
Konnte er mich grinsen hören? »Wir wollen gerade los, um ihn zu verhaften. Der Haftbefehl lautet auf das Verbrechen der Entführung eines Kindes in sieben Fällen. Ich wollte Sie nur anrufen und es Sie wissen lassen.«
»Nicht Mord?« Jetzt klang er noch enttäuschter.
»Noch nicht. Aber es kann sein, dass wir eine Leiche haben. Ich weiß nicht, ob so eine Geschichte es bis in Ihre Lokalblätter schafft …«
»Den Globe kann man eigentlich nicht ein Lokalblatt nennen«, sagte er. »Aber ich habe auch die Los Angeles Times gelesen.«
»Dann haben Sie es gesehen.«
»Ja. Aber ich bin verwirrt. Das Opfer war schwarz, das passt nicht zu Ihrem Muster.«
»Wir gehen davon aus, dass es nur eine Übungstat war.«
»O Mann. Hat er denn nicht schon genug Übung?«
»Und dann gab es drei fehlgeschlagene Entführungen an einem Tag. Er wollte mich herausfordern.«
»Aha«, sagte er. »Das ergibt schon mehr Sinn. Jetzt, da Sie eine Leiche haben, können Sie ihn auch wegen Mordes drankriegen, sobald Sie die Beweise beisammen haben.«
»Das können wir. Und das werden wir.«
»Na dann.«
An seinem resignierten Tonfall merkte ich, Moskal wusste, dass er schon sehr nett bitten musste, um Durand zurück in den Bay State zu bekommen, was erst passieren würde, wenn der Golden State damit fertig war, ihm die Lungen aus dem Leib zu reißen, so Gott wollte.
»Wie haben Sie ihn letztendlich überführt?«
»Turnschuhe«, sagte ich. »Er hat alle ihre Turnschuhe aufbewahrt.«
Ich konnte beinahe hören, wie sein Unterkiefer auf den Boden knallte. Die Leitung schien plötzlich tot zu sein.
»Pete? Sind Sie noch da?«
»Ja«, sagte er, beinahe ein Flüstern. »Warten Sie mal ’ne Sekunde. Ich lege Sie in die Warteschleife. Aber legen Sie bitte nicht auf.«
Er war verschwunden, ich war mit einem Spiralkabel an meinen Schreibtisch gefesselt, und ein Gedanke ging mir nicht mehr aus dem Kopf: Du hältst mich davon ab, den bösen Buben einzulochen.
Es schien eine Woche zu dauern, bis er zurückkam. Zwei Kopien des Haftbefehls, die ich in der Hand hielt, waren zerknittert und schweißfeucht, fühlten sich aber so heiß an, als würden sie gleich in Flammen aufgehen. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie meine fünf Kollegen ihre Waffen überprüften, ihre kugelsicheren Westen anzogen und die Batterien ihrer Funkgeräte kontrollierten. Das Stammesritual der Jagdvorbereitung war bereits voll im Gange, und ich würde nachhecheln müssen.
»Tut mir Leid«, sagte Moskal, als er sich wieder meldete. »Das hat länger gedauert, als ich dachte. Ich musste was nachprüfen.«
»Um Himmels willen, was denn?«
Plötzlich sprang auf dem Gestell neben meinem Schreibtisch das Fax an. Die ersten Millimeter Papier ruckelten aus dem Gerät.
»Kommt das Fax von Ihnen?«
»Ja. Ich warte, wenn Sie es sich anschauen wollen.«
Nach zweiminütigen Wehen war die Seite geboren. Ich riss sie fast verzweifelt aus dem Schlitz. Es war die etwas kontrastärmere, aber mit Hochauflösung gesendete Fax-Version von einem der Fotos, die ich in Moskals Fallordner gesehen hatte.
Die schuhlosen Füße waren eingekreist.
»O Mann«, flüsterte ich ins Telefon.
»Wenn Sie ihn verhaften, könnten Sie da vielleicht nach einem Paar schwarzer Basketballstiefel mit dem Logo der Boston Celtics suchen …«
Es würde mir ein Vergnügen sein.
Die beiden Dreier-Teams fuhren in getrennten Autos. Ich saß mit Spence und einem anderen Kollegen in dem ersten Fahrzeug, das zum Studio fuhr. Ich war dankbar für die Gesellschaft, denn ich war nervös – es war der größte Fall, den ich je bearbeitet hatte, und es versteht sich wohl von selbst, dass ich hoffte, es würde alles glatt laufen. Es gibt so vieles, was schief gehen kann, wenn man versucht, jemanden zu verhaften.
Ich schätzte Wilbur Durand als eher gelassen ein; als er mir seinen kleinen Besuch abstattete, war er so ziemlich der coolste Kunde, der je in ein Polizeirevier geschlendert war. Er hatte offensichtlich gewusst, dass wir in dem Augenblick nichts gegen ihn unternehmen konnten. Anscheinend hatte er mit einem Anwalt gesprochen, bevor er zu uns kam. Nicht mit diesem Kanzleiangestellten, den wir mit unserer Durchsuchung vom Golfplatz geholt hatten, sondern mit seiner berühmten Schwester, der bösen Hexe der Ostküste. Zweifellos wusste Sheila Carmichael bereits Bescheid, aber das muss man sich mal vorstellen: dass man einem anderen menschlichen Wesen – und noch dazu seinem eigen Fleisch und Blut – eröffnet: Ich werde verdächtigt, mehrere halbwüchsige Jungen entführt zu haben. Es würde ein kurzes Schweigen folgen, denn die Person, der man sich anvertraut, würde sich hüten zu fragen, ob man tatsächlich getan hat, wessen man verdächtigt wird. Und dann muss man sich vorstellen, Folgendes als Antwort zu hören: Dann lass uns mal überlegen, was wir tun können, damit dich das nicht zu hart trifft.
Und da fragen sich die Anwälte, warum die Leute sie mit Haien vergleichen.
In Kürze würden wir in Will Durands abgeschottete Existenz platzen und versuchen, sie aufzubrechen, und zum Teufel mit den Anwälten. Natürlich hatte man ihm bereits im Voraus eingeschärft, nichts zu sagen, falls er verhaftet würde, da war ich mir ganz sicher. Das erste Verhör nach der Verhaftung würde für einen jeden von uns, Frazee eingeschlossen, eins der schwierigsten der Karriere sein. Der Verdächtige würde bestens und aufs Professionellste präpariert sein.
Und eiskalt.
»Alles in Ordnung?«, fragte Spence.
Anscheinend merkte man es mir an. »Ja. Nein. Vielleicht. Frag mich, wenn wir ihn in Handschellen und im Auto haben.«
Er kicherte kurz. »Warst du in letzter Zeit auf dem Schießstand?«
»Ja.«
»Gut. Ich will mich nämlich nicht von dir erschießen lassen.«
»Keiner wird irgendjemanden erschießen. Soweit ich weiß, hat Durand keinen Waffenschein.«
»Das heißt nicht, dass er keine Waffe hat. Oder dass er nicht sechs oder sieben Leibwächter mit Waffen und Scheinen hat, die dafür bezahlt werden, dass sie für ihn die Drecksarbeit erledigen.«
»Ist nicht sein Stil. Das dürfte ziemlich glatt über die Bühne gehen.«
»Ja ja. So wie immer.«
Man hatte uns beigebracht, auf alles gefasst zu sein, das Unerwartete zu erwarten. Wenn ich mich nicht sehr täuschte, würde Wilbur Durand es nicht auf eine gewaltsame Konfrontation ankommen lassen. Seine Kugeln bestanden aus grauer Substanz. Wenn er damit auf uns schoss, würden wir vielleicht nie erfahren, was uns getroffen hatte.
Vor dem Studio standen zwei Fahrzeuge. Das eine war ein neuer Mercedes, schnittig und glänzend schwarz mit getönten Scheiben, das andere ein fünf oder sechs Jahre alter VW Jetta, ebenfalls schwarz. Ich gab die Kennzeichen durch. Während wir auf die Antwort warteten, überprüfte ich meine Waffe, nur für den Fall.
Es stellte sich heraus, dass keins der Fahrzeuge Durand gehörte, was eine Enttäuschung war. Der Mercedes war ein Mietwagen, was kurz Hoffnung aufkeimen ließ, bis der Dienst Habende hinzufügte, der Mieter sei eine große Anwaltskanzlei in der Innenstadt. Ich schrieb die Kennzeichen in mein Notizbuch und öffnete dann den Sicherheitsgurt.
»Keins gehört ihm oder seiner Firma.«
»Er könnte trotzdem da sein.«
Das war er nicht. Mr. Golfhose und der Wichser von einem Assistenten erwarteten uns. Beide beharrten darauf, dass Wilbur Durand wieder außer Landes sei.
»Dann ist er wohl nur kurz hergeflogen, um mir einen Besuch abzustatten, und dann gleich wieder verschwunden.«
»Ich werde keine Spekulationen über die Gründe meines Mandanten für seine Reisen anstellen«, jaulte der Anwalt. Ohne seine Golfklamotten sah er viel seriöser und amtlicher aus, aber er klang nicht besser. »Mr. Durand ist noch immer sehr beunruhigt wegen Ihrer Beschlagnahme seines Studios. Er hat einen sehr engen Terminplan und muss jetzt sehr hart arbeiten, um seine Deadlines nicht zu verpassen.«
»Er arbeitete nicht hier, als wir ankamen.«
»Vielleicht hat er irgendwo an einem Drehort gearbeitet; das weiß ich nicht. Ich weiß allerdings, dass er mit dieser Art von Störung in seinem Studio nicht arbeiten kann.«
»Er hätte uns nur bitten müssen, zu gehen.«
»Und Sie hätten das Studio verlassen?«
Er wollte mich nur ablenken, und ich wäre fast darauf hereingefallen.
»Wo ist er?«, fragte ich jetzt.
»Das ist mir nicht bekannt.«
»Aber Sie stehen doch in Verbindung mit Mr. Durand.«
»Das berührt die Vertraulichkeit zwischen Anwalt und Mandant, Detective.«
Ich spürte, wie die Frustration in mir immer stärker wurde; es würde nicht mehr lange dauern, und ich würde platzen und anfangen zu schreien. Spence spürte das offensichtlich, denn er berührte mich am Ellbogen und rettete mich, indem er den Mercedesfahrer fragte: »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns noch einmal umsehen?«
»Sehr viel sogar.«
»Wenn er zurückkommt«, sagte ich, »dann sagen Sie bitte Ihrem Mandanten, dass ich mich gerne mit ihm unterhalten würde. Ach, und vielleicht möchten Sie auch hinzufügen, dass wir einen Haftbefehl für ihn haben.«
Der Anwalt fragte erst gar nicht, wegen welcher Verbrechen.
Wir gingen wieder nach draußen und riefen das Team an, das zu Durands Haus gefahren war. Sie hatten nur den bekannten sabbernden Boy vorgefunden, aber keinen Durand.
Wir mussten also wieder abziehen. So fuhren wir hinein in die spätnachmittägliche Sonne mit ihren stechenden, schief einfallenden Strahlen, die alles so heruntergekommen aussehen lassen.
»Und, wie sieht Plan B aus?«, fragte Spence.
»Es gibt keinen Plan B«, sagte ich. »Ich hatte ja kaum ’nen Plan A.«
Er starrte mich ziemlich ungläubig an. »Also komm, Lany, du hast doch sogar einen Plan B, wenn du deine Nagelfeile verlierst.«
»Im Ernst, Spence. Kein Plan B.«
»Und was tun wir jetzt, so herausgeputzt, wie wir sind?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wir sollten ihn aufscheuchen.«
»Und wie, bitte schön?«, fragte Fred. »Sie haben doch selbst gesagt, der Kerl ist ein wandelnder Verschwindibus. Und im Augenblick können wir damit noch nicht an die Öffentlichkeit gehen.«
Ein paar hohe Tiere und einige Detectives nahmen an dieser Krisensitzung teil. Ich saß mal wieder im Schleudersitz und musste mir ziemlich schnell etwas einfallen lassen.
»Ich kenne eine Frau bei der Times«, sagte ich. »Ich habe mit ihr zwar schon eine ganze Weile nicht mehr zusammengearbeitet, aber wir hatten früher eine ziemlich solide Beziehung. Wenn wir ihr etwas als Gegenleistung anbieten, bringen wir sie vielleicht dazu, dass sie schreibt, Durand sei irgendwie in den Fall verwickelt, ohne ihn konkret einen Verdächtigen zu nennen. Sie könnte sich auf anonyme Quellen bei der Polizei berufen, so dass niemand von oben eine auf den Deckel bekommt.«
»Sie trauen ihr?«
»Ja, ich glaube schon. Wie gesagt, es ist schon eine Weile her, aber sie hat sich immer sehr anständig verhalten.«
Ich hatte von Fred mehr Widerstand erwartet, aber er schien bereit, so ziemlich alles auszuprobieren. »Könnte einen Versuch wert sein. Aber bevor es in Druck geht, möchte ich sehen, was sie geschrieben hat.«
Was stellte er sich denn vor? »Ich weiß nicht, Fred, da dürfte sie was dagegen haben. Redaktionelle Autonomie.«
»Ich will ja nicht ihre Grammatik korrigieren. Ich möchte nur sicherstellen, dass der Artikel in die Richtung geht, die wir haben wollen.«
»Für diese Art von Zusammenarbeit möchte sie wahrscheinlich was Exklusives haben, wenn es so weit ist.«
»Wie wär’s mit dem ersten Interview mit Ihnen?«
»Was, wenn ich keine Interviews machen will?«
»Pech.«
Jetzt hatte ich den Salat.
Es waren knifflige Verhandlungen, letztendlich aber einigten wir uns auf eine für beide Seiten tragbare Abmachung, nur wir beide, ohne Vorgesetzte, ohne Fred, ohne Redakteure. Sie versprach, den Artikel zu platzieren, und verlangte dafür sofortigen Zugang zu allen Informationen gleich nach Eröffnung des Verfahrens, unabhängig davon, wie der Rest der Presse behandelt wurde. Außerdem würde ich mich eine Stunde lang mit ihr zusammensetzen, sobald ich mich vom Verhaftungs-Papierkram loseisen konnte, und in dieser Zeit würden wir offen über den Fall und seine Entwicklung reden.
Am nächsten Morgen war die Kacke am Dampfen.
Wie aus anonymen Polizeikreisen verlautete, wird gegen Hollywoods Special-Effects- und Make-up-Genie Wilbur Durand, zu dessen spektakulärer Erfolgsgeschichte eine Reihe der berühmtesten Horrorfilme aller Zeiten gehören, in Zusammenhang mit dem Verschwinden mehrerer kleiner Jungen im Großraum Los Angeles ermittelt. Sein erst kürzlich angelaufener Kinofilm Sie essen dort kleine Kinder, in jeder Hinsicht ein spektakulärer Erfolg, war das erste Projekt seiner eigenen Produktionsfirma Angel Films. Durand, 40, wird von vielen Hollywood-Stars als der beste Make-up-Künstler seiner Generation betrachtet, doch dieser Titel sagt kaum etwas über die wahre Bandbreite seiner Talente aus. Eine Schauspielerin, die ungenannt bleiben will, wird mit folgendem Satz zitiert: »Er konnte mich auf eine Art wieder jung aussehen lassen wie sonst keiner.«
Nach einer »langen und gründlichen Ermittlung«, so ein zuständiger Polizeibeamter, wird nun nach Durand gesucht, um ihn im Zusammenhang mit dem Verschwinden von drei Jungen zu verhören, zwei 13 und einer 12 Jahre alt, die alle im westlichen Teil von Los Angeles entführt wurden. Einer wird seit etwa zwei Jahren vermisst, ein anderer seit ungefähr einem Jahr und der dritte seit etwa zwei Monaten. Gegenstände, die den drei vermissten Jungen zugeschrieben wurden, wurden in einem Versteck in Durands Studio gefunden und später eindeutig von Verwandten der Jungen identifiziert. Darüber hinaus wird gegen ihn wegen einer möglichen Verwicklung in den Tod des zwölfjährigen Earl Jackson ermittelt, dessen Leiche letzte Woche auf einem verlassenen Parkplatz in der Nähe des Flughafens gefunden wurde.
Durand selbst wurde kurz vor der Entdeckung des Belastungsmaterials von den Behörden zum letzten Mal gesehen, als er persönlich in die Abteilung Verbrechen gegen Kinder kam und den Ermittlern Belästigung im Verlauf der Durchsuchung seiner Arbeitsräume vorwarf. Er verlangte von ihnen sein Studio zurück. Aufgrund der Informationen, die bei der zeitweiligen Besetzung und Durchsuchung von Durands Studio gefunden wurden, wird nun eine langjährige Reihe von ähnlich gearteten Verschwindensfällen, die bisher verschiedenen Entführern zugeschrieben wurden, als das potenzielle Werk eines einzigen Täters betrachtet.
Durand steht offensichtlich schon länger in dem Verdacht, in diese Verbrechen verwickelt zu sein, nach Angaben der Polizei gestaltete sich die Suche nach Belastungsmaterial gegen ihn jedoch schwierig. Es heißt, seine allgemein bekannten einsiedlerischen Tendenzen hätten die Ermittlung erschwert.
Zusätzlich behauptet ein namentlich nicht genannter Polizeibeamter aus dem Umfeld der Ermittlung, Durands herausragende Position in der Filmindustrie habe ihm einen gewissen Schutz gewährt, und vergleicht dies mit der Nachsicht, die O. J. Simpson zu Beginn seines Verfahrens entgegengebracht wurde. Nach Angaben dieses Beamten ist es nicht ungewöhnlich, dass bekannte Mitglieder der Film-Szene von Los Angeles eine derartige Sonderbehandlung erfahren, wenn sie in Schwierigkeiten mit der Polizei geraten.
»Polizisten sind auch nur Menschen – auch sie suchen die Nähe der Stars. Was liegt da näher, als sich zum Verbündeten zumachen, wenn ein Star in Schwierigkeiten ist.« Um einen Kommentar gebeten, wies die Sprecherin der Polizei von Los Angeles, Heather Maroney, diese Behauptung vehement zurück und nannte sie »unverantwortlich und haltlos«.
Inzwischen läuft eine landesweite Fahndung nach Durand, dessen Aufenthaltsort weiter unbekannt ist. Die Polizei geht zwar davon aus, dass er unbewaffnet ist, betrachtet ihn jedoch als extrem gefährlich, vor allem für Kinder. Sein Sprecher sagt, er arbeite »außer Landes« an einem Film, doch diese Behauptung konnte nicht bestätigt werden. Wegen seines Geschicks im Verkleiden und Verstellen ist es unwahrscheinlich, dass er als er selbst unterwegs ist. Die Polizei von Los Angeles hat eine gebührenfreie Hotline eingerichtet, die von jedem angerufen werden kann, der glaubt, ihn gesehen zu haben. Die Anrufer können anonym bleiben, aber jeder, der Hinweise gibt, die zu Durands Ergreifung führen, hat Anspruch auf etwaige zukünftige Belohnungen.
Drei Minuten, nachdem die Zeitung auf Freds Schreibtisch gelandet war, wurde ich in sein Büro gerufen.
»In der Kopie, die ich gelesen habe, stand nichts von diesem ›Nachsichts‹-Zeug.« Er schlug mit der Hand auf den Artikel; es musste ihm wehgetan haben. »Was soll dieser Scheiß überhaupt?«
»Wie gesagt, die haben dort Redakteure. Meine Bekannte wollte ihrem Redakteur nicht sagen, dass alles arrangiert war, deshalb konnte sie gegen dieses Extrazeug nichts unternehmen.«
»Blödsinn. Das stammt doch von Ihnen.«
Er hatte Recht – es stammte wirklich von mir. Ich hatte es zwischen Freds Lektüre und der Schlussredaktion hineingeschrieben. Es war nicht gestrichen worden. Doch die Wahrheit würde nie ans Licht kommen. »Nein«, log ich, »das stammt nicht von mir. Ich hatte ihr die Ursprungsfassung abgesegnet, und der Rest wurde später eingefügt. Vergessen Sie nicht, diese Leute werden dafür bezahlt, dass sie fantasievoll mit der Wahrheit umgehen.«
»Jetzt, da das draußen ist, möchte ich gar nicht wissen, wie mit mir umgegangen wird, wenn wir diesen Kerl nicht schnell schnappen. Und mit Ihnen natürlich auch.«
Fotos des undefinierbaren Wilbur Durand zierten die Titelseite jeder Zeitung des Landes. In Mexiko und Kanada hielt man die Augen auf nach dem flüchtigen Genie, und in Europa ebenso. Seine Geschichte machte international Schlagzeilen, und das war vorherzusehen: Sie triefte förmlich von dem Saft, dem anscheinend keiner von uns widerstehen kann, auch wenn es kaum jemand zugibt.
Ich schämte mich nicht. Ich muss gestehen, dass ich für diese Art von Sensationen ebenso anfällig bin wie jeder andere. Dass ich ihnen nicht widerstehen kann, dürfte mit ein Grund sein, warum ich Polizistin wurde; ich habe meine Zeit auf der Straße abgedient, aber ich wusste immer, dass ich einmal Detective werden würde – gewisse Dinge muss ich einfach herausfinden. Einige Antworten bekam ich in Boston, aber nicht alle.
Zum Beispiel die auf die Frage, wie es kommt, dass ein Mann mit so immensem Reichtum und so enormer Macht, einem so unglaublichen Genie und solchen beneidenswerten Talenten zu dem werden kann, was er jetzt ist. Wenn ich sein Geld und sein Hirn hätte, würde ich mit Sicherheit die Welt regieren, denn genau das kann man tun, wenn man hat, was er hat.
Und als Nächstes wollte ich wissen, warum Eltern mit so einem Kind es versäumen können, seine Stärken zu erkennen und zu fördern. Das ist schon schlimm genug, aber noch einen Schritt weiter zu gehen und ihm tatsächlich Schaden zuzufügen, nun, das muss einfach ein Verbrechen sein.
Und schließlich musste mir jemand sagen, warum ich ganz tief in meinem Herzen Mitleid mit diesem Monster hatte, obwohl mein Hirn kreischte: Grillt den Schweinehund, und zwar schnell.
Nachdem die Geschichte nun an die Öffentlichkeit gelangt war, gab es kaum noch jemanden, der nicht zu uns in den Ring steigen wollte. So ziemlich jedes Medium, jeder forensische Psychologe und jeder Profiler des Landes flehte uns förmlich an, mitarbeiten zu dürfen. Dieser Fall konnte zum Goldesel werden für jeden, der ihn nur richtig anzupacken wusste, und sie stellten sich bereits an und schubsten und rempelten in einem Kampf um eine Position, die längst von einem gewissen Errol Erkinnen gehalten wurde, der in diesem Fall bereits sehr früh seine Schuldigkeit getan hatte.
Die Hotline wurde von Tausenden von Anrufern belagert. Wir drehten fast durch bei dem Versuch, allen Hinweisen nachzugehen.
Ich habe ihn in der Drogerie gesehen, Sie wissen schon, die neben der Ultra-Mart-Tankstelle … Er stand vor mir in der Kinoschlange. Ich wollte mir Sie essen dort kleine Kinder ansehen, und er musste es einfach sein, weil es doch sein eigener Film ist …
Wir haben ihn am Flughafen gesehen. Er war angezogen wie Greta Garbo, mit Pelzmantel und allem. Bei diesem Wetter, das müssen Sie sich mal vorstellen, in einem Pelzmantel – das macht doch keiner, außer er muss es, also musste er es sein …
Er versuchte, in die Umkleidekabine im Baseball-Stadium zu kommen. Er hatte diesen alten, abgenutzten Handschuh dabei …
Und die ultimative Verkleidung: Er war in Uniform. Ich sah ihn mit einigen anderen Polizisten herumhängen. Sie hatten keine Ahnung, aber ich erkannte ihn. Ich wusste einfach, dass er es war …
Der Medienrummel stieg fast in Simpson’sche Höhen. Jeden Tag, wenn ich das Revier betrat oder verließ, standen sie da mit ihren Übertragungswagen und Schulterkameras und Radiomikrofonen. Frauen, die zu dieser frühen Stunde schon perfekt frisiert und geschminkt waren, Männer in Armani vor Sonnenaufgang – was konnte einen Menschen dazu bringen, solche Mühen auf sich zu nehmen? Natürlich war es die Hoffnung auf diese glücklichen dreißig Sekunden in den Nachrichten, die einen in den Himmel der Prominenz erhoben. Es war die Chance, die erforderlichen Einschaltquoten zu bekommen.
Wohl jeder Job hat seine Quoten, schätze ich.
Ich fühlte mich merkwürdig abgeschottet von dem ganzen Rummel, und das lag an der Anonymität, zu der Fred mich verdonnert hatte, bis wir die ganze Sache besser in den Griff bekamen. Dieses eine Mal war ich mit ihm einer Meinung. Bevor wir Durand eindeutig als Täter identifiziert hatten, gab es gute Gründe, die Sache unter Verschluss zu halten. Jetzt, da wir wussten, dass er es war, brauchten wir die Hilfe der Öffentlichkeit, jedoch ohne ihre Einmischung, eine diffizile Gratwanderung, die nur mit sorgfältigster Öffentlichkeitsarbeit zu schaffen ist. Zum ersten Mal in meiner Karriere als Polizistin begriff ich, was Heather Maroney als Sprecherin wirklich leistete – sie war die Speerspitze im Kampf mit der Öffentlichkeit. Das Risiko, dass jemand innerhalb der Abteilung meinen Namen preisgeben würde, bestand kaum, außer ich hatte einen unbekannten Feind in den Reihen – und das erschien mir unwahrscheinlich, weil ich immer bemüht war, niemandem auf die Zehen zu treten. Fred machte sich mehr Sorgen, dass jemand aus Durands Organisation meine Identität an die Öffentlichkeit tragen würde.
Ich wurde schließlich verraten, doch von niemandem aus der Abteilung und auch von niemandem von der Presse. Es war Wilbur Durand selbst, der die Welt wissen ließ, wer ich war.